Reklame: 1986

Dies ist ein Auszug aus der Geschichte „1986“, die Ihr im Buch finden werdet.

1986 war ein bewegendes Jahr. Es war das Jahr, in dem wir als Kinder froh waren, kein Gemüse essen zu müssen, weil da irgendwas in Tschernobyl explodiert war. Und wir standen aufgeregt auf dem Schulhof der katholischen Grundschule „Sankt Quirinus“ – total begeistert von der Explosion der Challenger, die wir zuvor in den „Heute“-Nachrichten gesehen haben.

Wir waren Kinder, um genau zu sein waren wir so um die Sieben oder Acht Jahre alt. Und dem entsprechend haben wir uns reichlich wenig Gedanken über solche Dinge wie verstrahlten Regen gemacht oder darüber, dass in dem Space Shuttle Menschen saßen, die gestorben sind.

Auf dem Dorf aufzuwachsen war in den 1980er Jahren noch so etwas wie ein großes Abenteuer. Unser Leben  bestand daraus, mit unseren BMX-Rädern durch die Gegend zu fahren und Mist zu bauen.

Am Rand unseres Dorfes gab es ein Munitionslager der US-Armee und in unmittelbarer Nähe dazu einen alten Luftschutzbunker, der irgendwann eingestürzt war und nur noch eine Einstiegslucke, gerade passen für einen Achtjährigen Jungen ließ.

Dort verbrachten wir viel Zeit und beobachteten die Soldaten, die ihren Dienst taten. Dabei kamen wir uns ganz schön gefährlich vor und wir waren uns sicher, dass es nur unserem unglaublichen Geschick und unseren perfekten Tarnkünsten zu verdanken war, dass wir nicht geschnappt und in Gefangenschaft genommen wurden.

Im Sommer fuhren wir zum 5 Kilometer weit entfernten Kieswerk und badeten unerlaubterweise in dem künstlichen See. Im Winter, wenn es geschneit hatte, versammelten wir uns an der einzigen Stelle in unserem niederrheinischen Dorf, die etwas von einem Hügel hatte und rodelten mit unseren Holzschlitten den „Berg“ runter. Kopf voran, so etwas wie Bremsen gab es noch nicht.

Wenn mein damaliger Kumpel Christian und ich Langeweile hatten, dann besuchten wir Familie Eskens, vielmehr „Omma und Oppa Eskens“. Ihr Sohn hatte den Hof übernommen und die beiden lebten auf dem Altenteil. Und da der Jungbauer „Junggeselle“ geblieben war, wie man das damals nannte, blieb den beiden alten Leuten der Wunsch nach Enkelkindern verwehrt.

Ich glaube, die beiden haben sich gefreut, wenn wir sie besucht haben. Und wir haben uns auch gefreut, denn sie hatten immer ein paar Süßigkeiten für uns. Naja fast, Kandiszucker, Braun, ich fand den lecker. Einen Hund hatten sie übrigens auch, leider fällt mir sein Name nicht mehr ein. Aber das er an einer langen Kette lebte und jedem Eindringling unmissverständlich klar machte, dass er unerwünscht war. Einmal habe ich versucht, ihn zu streicheln, was mir a) die erste Bißverletzung meines Lebens einbrachte und b) Ärger mit meinem Vater, da ich ja wisse, dass man fremde Hunde nicht anfasst. Verrückt. Vor Achtundzwanzig Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, einen Anwalt einzuschalten oder die Polizei zu rufen. Dabei ist das eigentlich noch garnicht so lange her, zwei Jahre zuvor wurde der VW Golf 2 vorgestellt.

1986 war auch das Jahr, in dem „Ernie“ starb und in dem ich die erste Woche in meinem Leben ohne Hund lebte. Ernie war ein Langhaardackel und entstammte tatsächlich dem „Quelle“-Katalog. Meine Mutter hat mir mal erzählt, wie sie Ernie abgeholt hatte.

Am Güterbahnhof in Wetten, als dieser noch in Betrieb war. Ernie war gut verpackt in einem Wellpappekarton mit ein paar Löchern drin. Acht Wochen alt muss er da gewesen sein und mit der Deutschen Bundespost versendet.

Anders als zu vermuten wäre hatte Ernie kein Trauma, sondern war vielmehr ein typischer Dackel, der stur war wie ein Holzklotz, jagte wie ein irrer und auch schonmal zubiss, wenn man ihn ungefragt hochheben oder streicheln wollte.

Jeden Morgen, wenn der Postbote kam, schoss Ernie aus der Einfahrt und verjagte den Mann mit seinem gelben Auto. All die Jahre. Der Postbote, ein schlauer Mensch, wusste natürlich, dass der kleine Dackel gleich ums Eck käme und hatte eine erstaunliche Mischung aus Reaktionsschnelle und Fahrtechnik entwickelt, so das nie etwas passiert ist.

Womit Ernie allerdings nicht rechnen konnte, war der Umstand, dass auch Postboten mal Urlaub machen. Und die Urlaubsvertretung unseres Postboten konnte wiederum nicht damit rechnen, dass gleich Ernie auftauchen würde. Und so fand Ernie mit nur Neun Jahren sein Ende an der Stoßstange eines Postautos.

Ich weiss noch, dass mein Vater Ernie hinterm Haus auf der Mülltonne abgelegt hatte und dass der Dackel aussah, als wenn er nur schlafen würde. Später fand Ernie seine letzte Ruhestätte im Garten, ohne Genehmigung und bestimmt nicht erlaubt. Das hätte Ernie gefallen.

Darauf folgte die besagte Woche ohne Hund, bis mein Vater schliesslich die Kleinanzeigen in den „Niederrhein Nachrichten“, dem lokalen Anzeigenblättchen durchforstete und auf folgenden Text stieß: „Welpen abzugeben. Telefon …“

Mein Vater ging in den Flur, setzte sich und griff zu dem damals funkelnigelnagelneuen großen, grünen „FeTAp 75“ der Deutschen Bundespost.

Und so fuhren wir mit dem Auto nach Geldern auf einen Bauernhof, die Bauersfrau führte uns zum Schweinestall und dort tobten sie rum. Vielleicht waren es sechs, vielleicht waren es auch Acht, ich kann mich nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall waren sie das Ergebnis einer Romanze zwischen der Schäferhundirgendwasdame des Hauses und eines unbekannten Dorfcasanovas, vielleicht einem Rottweiler.

Wir Kinder spielten mit den Welpen und sollten uns einen aussuchen. Ausnahmsweise waren meine Schwester und ich uns einig – es sollte unbedingt dieser eine sein, der Rüde, der Wilde, der, der gerade in meinen Schnürsenkeln hing und diese schüttelte. Ich fand das saukomisch.

Einen Kaufpreis gab es nicht, ebenso keinen Heimtierausweis, irgendeine Impfung oder auch nur eine Wurmkur. Mein Vater übergab der Bauersfrau eine Flasche Rotwein, diese freute sich sehr und wir packten den Hund ins Auto und fuhren nach Hause.

Beim Namen waren meine Schwester und ich uns nicht einig, aber Dank der Tatsache, dass ich schon als Kind so lange quengeln konnte, bis ich meinen Willen bekam, setzte ich mich schliesslich durch und der kleine Derwisch bekam den Namen „Tiger“.

(das geht noch weiter – in Papierform)

 

Gigigigigigigi!

„Gigigigigigigigi – Hiiiiiiiier!“ johlte Frau P. ihrem Hund hinterher, der sich gerade vom Acker machte.

Das Geräusch erinnerte ein wenig an einen an ADHS erkrankten Gockel, der soeben in einen Mixer gefallen war. Während „Fly“ davon nicht besonders beeindruckt war, schauten uns die anderen Menschen auf der Wiese mit einer Mischung aus Sorge und Angst an.

Vor etwa 15 Minuten hatte ich Frau P. kennengelernt, Ersttermin, denn Fly brauchte noch „ein wenig Erziehung“, wie Frau P. mir am Telefon gesagt hatte. Nun war Fly weg und nur hin und wieder konnte man etwas schwarzweisses am Horizont zwischen den Büschen erkennen.

„Der Abruf klappt noch nicht so gut.“, bestätigte mir denn auch Frau P. und während ich mich fragte, warum sie ihren Hund dann von der Leine läßt, blieb meine Neukundin bemerkenwert gelassen in Anbetracht der Tatsache, dass hier noch jede Menge anderer Menschen samt Hund unterwegs waren und auch die nächste Straße nicht allzuweit entfernt war.

Nach gefühlt 30 Minuten, aber vermutlich waren es aber nur 10, tauchte Fly dann am Horizont wieder auf und Frau P. nutzte die Gelegenheit, wie ein Terrorverdächtiger auf der Flucht vor der Polizei in den nächstgelegenen Busch zu hechten.

„Gigigigigigi – Hiiiiiieer!“

„Dann verstecke ich mich immer und meisten kommt sie dann.“, erklärte Frau P., während ein erster Spaziergänger sichtlich besorgt Anstalten machte, zur Hilfe zu eilen und der armen Frau einen Krankenwagen zu rufen.

Aber so ist das. Hat man einen Hund muss man sich auch mal zum Affen machen. Nur das das Fly gerade ziemlich egal war.

Und weil Frau Ps. Strategie jetzt gerade nicht so richtig fruchten wollte, ergriff sie die Flucht. Man kennt das. In der Theorie. Besitzer rennt los, Hund kommt hinterher, schliesslich will er ja nicht verloren gehen.

Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass der Hund auch bemerkt, dass da jemand wegrennt. Fly hatte jedoch gerade wichtigeres zu tun, nämlich in der Form, dass sie gerade einem fremdem Labbi die Nase in den Hintern steckte.

Die anfängliche Besorgnis der herumstehenden Leute ob des merkwürdig anmutenden Verhaltens von Frau P. wich so langsam aber sicher der Verärgerung darüber, dass Fly wie von der Sau gestochen über die Wiese rumpelte, während ihre Besitzerin erfolglos hin und her rannte und „Gigigigigigi“ brüllte.

Eine junge Mutter mit Kind erbarmte sich schliesslich, fing den Hund kurzerhand ein, als er an ihr gerade hochspringen wollte ein und übergab ihn Frau P., die sich überschwenglich darüber freute, „Feeeiiiini“ johlte und Fly ein Frolic ins Maul stopfte.

Gerade in dem Moment, in dem sie ihren Plüschderwisch wieder auf die Menschheit loslassen wollte, konnte ich meine Fassungslosigkeit für einen kurzen Moment überwinden und sagte: „Leinen Se den Hund mal an.“

Angeleint zeigte Fly beste Ambitionen, die nächste Weightpulling-Weltmeisterin zu werden, ständig unterbrochen durch ihr Frauchen, die alle eineinhalb Meter stehen blieb, abwartete, bis Fly sie eines geringschätzigen Blickes würdigte und dann „Feeeeiin!“ hauchte. Sozusagen als Hinweis, dass Fly jetzt weiter ziehen darf.

Frau P. erzählte mir, dass ihr Hund jetzt sechs Jahre alt wäre und Fly schon wahnsinnige Fortschritte gemacht hätten. Gut, das mit dem Abruf funktioniert noch nicht und an der Leine zieht sie auch ein wenig. Zuhause klaut sie wie ein Rabe und wenn Frau P. ihr die Beute wieder wegnehmen möchte, knurrt sie.

Achja, leider kann sie Fly auch nicht alleine lassen – vermutlich Verlustängste. Seitdem die Hundesitterin weggezogen ist, gestalteten sich manche Dinge etwas schwierig. Einkaufen zum Beispiel. Oder Müll rausbringen.

Aber mit Menschen, da ist sie eigentlich toll, freut sich über alles und jeden und begrüßt jeden freudig. Gut, die Leute sollten nicht unbedingt den guten Sonntagsanzug tragen, denn Fly ist sehr kontaktfreudig, höflich ausgedrückt.

Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir vor, wie sich Fly wohl so verhalten hat, bevor sie die wahnsinnigen Fortschritte gemacht hat.

Wie gesagt, angerufen hatte Frau P., weil ihr Hund ihrer Meinung noch „ein wenig Erziehung“ benötige, im Laufe der vergangenen 10 Minuten eröffnete sich mir eine riesen Baustelle und ich war mir sicher, dass ich noch länger das Vergnügen mit Frau P. und Fly haben dürfte.

So richtig nachvollziehen konnte sie meinen Einwandt nicht, dass Fly vielleicht ein klitzeklein wenig ungebremst sein könnte und es nur ganz vielleicht und unter Umständen nur so semitoll für anderen Menschen sein könnte, von einer Border Collie-Rampensau angesprungen zu werden, die kurz zuvor noch durch den nassen Acker gewalzt ist.

Eigentlich war Frau P. echt glücklich mit ihrer Hündin und der Meinung, dass sie eeeeecht lieb ist. Mit dieser Meinung stand sie allerdings ziemlich alleine auf der Welt. Aber nunja, der Mensch wächst an seinen Aufgaben. Und häufig arrangiert man sich mit seinem Problem.

Und so lernt man als Hundetrainer auch mal Menschen kennen, die sich einen Helm aufziehen, wenn sie ihren Hund ausführen. Aus Erfahrung, könnte ja sein, dass noch mal wieder jemand anders nachts um Drei durch die Gegend läuft. Oder die ins ehemalige Kinderzimmer umziehen, weil der Vierbeiner sie nicht mehr ins Schlafzimmer lässt. Oder diejenigen, die Futter in die Küche schmeissen und fluchtartig den Raum verlassen, damit der geliebte Vierbeiner ins Chappi und nicht in den Besitzer beißt.

Verrückt. Könnte man meinen, aber irgendwie auch menschlich.

Frau P. hat übrigens zwischenzeitlich einen Teilerfolg verbuchen können. Mittlerweile ist es tatsächlich möglich, fast zwanzig Minuten das Haus zu verlassen, ohne das Fly die Wohnung zerlegt. Sie ist da sehr glücklich drüber, Lebensmittel sind im Supermarkt wesentlich günstiger als von der Tankstelle.