Sand in den Taschen
Als ich mich an diesem Abend meiner Arbeitsklamotten entledigte, rieselte Sand auf den gefliesten Boden unseres Badezimmers. Ich hatte einen harten Tag hinter mir. Aber auch ein Ziel vor mir. Noch ein Tag Sand und Steine auf der Baustelle schleppen und ich hätte mir genügend Geld dazuverdient, mir meinen damals größten Wunsch zu erfüllen.
Damals war ich 15 oder 16 und mein Wunsch war eine Lederjacke. Und die waren teuer.
Also hattest Du mir angeboten, Dir auf dem Bau zu helfen. 10 Mark pro Stunde hattest Du mir in Aussicht gestellt und so stand ich in den folgenden Tagen früh auf und schleppte Pflastersteine, während andere ihre Sommerferien im Freibad verbrachten.
So warst Du. Im besten Sinne großzügig. Du schafftest mir Möglichkeiten, Ziele zu erreichen. Als ich mit 11 Jahren Gitarre lernen wollte, besorgtest Du mir eine von einem Bekannten, der Musik machte. Das Instrument zu erlernen, das war meine Aufgabe und das hatte ich zu organisieren. Wieder eine Möglichkeit, die hast Du geschaffen hast.
Als ich studieren wollte, war das für Dich ok, als ich das Studium abbrach, um etwas anderes zu lernen, war das für dich auch ok. Du, der immer Kohl gewählt hat und ich, der mit bunten Haaren von Anarchie träumte. Auch das war ok. Ich bin sicher, dass Du es eigentlich gut fandest, dass ich mich engagiert habe. Egal wofür. Als wir uns mal richtig stritten, sagtest Du mir unvermittelt, dass Du stolz auf mich seist.
Über Politik konnten wir eh nicht streiten, dafür über Fussball. Ich weiss noch, wie wir, da muss ich 7 oder 8 gewesen sein, ein Fussballspiel meiner Lieblingsmannschaft im Fernsehen guckten und du mich so lange geärgert hattest, bis ich stinksauer abgedackelt war. Später kamst Du in mein Zimmer und hast dich entschuldigt. Dabei hattest Du recht, die haben an dem Abend miserabel gespielt und zu Recht verloren.
Nach dem Tag auf der Baustelle war ich abends fix und fertig, für Dich war dieser Knochenjob 40 Jahre lang Dein Alltag. Du warst ein Malocher, hast Dich darum gekümmert, dass wir ein bisschen Wohlstand hatten.
Schon Dein Vater war Malocher. Für Dich war ein Stück Fleisch auf dem Teller ein Zeichen dafür, dass Du etwas erreicht hattest. Du brauchtest nicht viel, um zufrieden zu sein. Schweigsam und stoisch, genügsam und demütig hast Du das getan, was du für notwendig erachtet hast.
40 Jahre auf dem Bau, 40 Jahre schuften, bis erst Dein Rücken und später Dein Herz nicht mehr konnte. Angefangen mit gerade mal 15 Jahren, ohne Pause. Einmal im Jahr zwei Wochen Urlaub im Sauerland.
Die guten Zeiten, die würden noch kommen. Wenn Ihr erst in Rente seid, wenn Du Dich etwas zurücknehmen kannst, wenn wir Kinder aus dem Hause sind.
Sand in den Taschen. Ich war mit meinen Hunden am Strand, ich musste mich sammeln, als mich die Trauerkarte erreicht hatte.
Das hätte Dir gefallen. Du mochtest meine Hunde und meine Hunde mochten Dich. Ich weiss noch, wie wir in der Küche saßen, die Hunde sich völlig daneben benahmen und Du ihnen dafür Leckerchen gabst. Wie wir mit der ganzen Bande spazieren gingen und Du einfach Freude daran hattest, ihnen zuzusehen.
Ich erinnere mich an Max, den Dackel, der nie kläfft und wie Du dich noch Monate später darüber amüsieren konntest, dass er ausgerechnet an dem Tag durchbellte, an dem Ihr zu Besuch ward.
Als ich vom Strand zurückkam, spürte ich Sand in den Taschen. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Zeit, als ich damals im Badezimmer stand und du mir die Möglichkeit geschaffen hattest, ein Ziel zu erreichen.
Ich erinnere mich, dass Du mir mal gesagt hast, ich solle lieber ehrlich als höflich sein. Dass Du mal gesagt hast, dass es nicht darum geht, alles zu erreichen. Sondern darum, sich hinterher nicht darüber zu ärgern, es nicht probiert zu haben.
Mit 15 oder 16 wollte ich nie so werden wie Du! Heute bin ich es längst und das macht mich stolz.
Du wurdest nur 67 Jahre alt. Das ist unfair. Ich hätte Dir von Herzen noch ein paar Jahre gegönnt. Zeit, sich auszuruhen, die Rente zu geniessen und doch noch das Motorrad zu kaufen, von dem Du mal erzählt hattest. Dazu ist es nicht gekommen.
Ich hätte Dich gerne nochmal gesehen, hätte mich gerne verabschiedet. Dazu ist es auch nicht mehr gekommen. Vielleicht hätte ich Dir noch was sagen wollen. Vielleicht, dass ich Dir dankbar bin für die vielen Möglichkeiten, die Du mir eröffnet hast. Vielleicht, dass ich froh bin, einen Vater wie Dich gehabt zu haben, auch wenn ich beim besten Willen nicht verstehe, wie man Bayern-Fan sein kann.
Sand in den Taschen. Das ist das, was bleibt. Damals auf der Baustelle, heute am Strand und wer weiss, wo noch in der Zukunft.
Es werden sich Möglichkeiten ergeben. Und ich bin mir sicher, das würde Dir gefallen.
Lebe wohl.