Hässliche Wahrheit (1): Das Resozialisierungs-Dilemma
„Eigentlich“ ist das Wörtchen, von dem Hundetrainer leben. Und es gibt bestimmte Dinge, die behält man eigentlich besser für sich. Zeit sie anszusprechen.
Vor kurzem stieß ich im Internet auf ein Video, in dem ein maulkorbgesicherter Hund in einem Tierheim einen Menschen attackierte. Das war kein Zufall, sondern Teil eines Trainings. In den Kommentaren darunter fanden sich diverse Respektsbekundungen und – selbstverständlich – auch ein paar Kommentare, die gegen das Gezeigte wetterten.
Ein geschätzter Kollege von mir hatte auch einen Kommentar hinterlassen, nämlich:
. „An wen will man diesen Hund guten Gewissens vermitteln?“
Das ist eine verdammt gute Frage, die jedoch niemand aufgriff. Stattdessen kamen jede Menge blöder Kommentare, auf die ich jetzt nicht eingehe.
Dabei hat er vollkommen recht. Und zwar aus mehreren Gründen:
Ein Blick in die sozialen Netzwerke zeigt, dass es eine Vielzahl von Projekten gibt, die sich mit der Resozialisierung von Hunden befassen. Wenn ich nur mal die Handvoll nehme, die mir auf Anhieb einfallen, macht das gut und gerne 200 Hunde, die trainiert und an geeignete Menschen vermittelt werden sollen.
Hier stehen wir vor dem ersten Problem. Solche Menschen sind rar gesät, während es genügend problematische Hunde auf Wartelisten gibt, die sofort nachrücken, wenn morgen alle resozialisiert und vermittelt worden sind.
Ich selber habe 2015 meine tierheimähnliche Einrichtung dicht gemacht. Trotzdem bekomme ich noch wöchentlich Anfragen, ob ich einen Hund aufnehmen könne.
Die bittere Wahrheit ist, dass die eigentliche Kunst darin liegt, jemanden zu finden, der a) Lust auf ein jahrelanges Projekt hat und b) über die entsprechenden Mittel und Möglichkeiten verfügt. Hin und wieder gelingt das. Ein Grund zur Freude, aber sicherlich keine Routine.
Denn, und damit kommen wir zum zweiten Problem. Eine Resozialisierung beim Hund – zumindest so, wie wir uns das wünschen – gibt es nicht!
Der Grund dafür ist simpel. „Kannst Du Fahrrad fahren? Wir können noch so lange trainieren, du wirst es auch morgen noch können.“
Man kann ein einmal erlerntes und etabliertes Verhalten nicht einfach löschen. Hunde sind – ebenso wenig wie Menschen – keine Computer, deren Festplatte man formatiert, und danach ist alles wieder gut.
Anders als Hunde sind wir Menschen jedoch in der Lage, Einsicht über begangenes Unrecht zu entwickeln und einen Zusammenhang zwischen unserem früheren Verhalten und unserer aktuellen Situation herzustellen.
Diese Einsicht ist der Kern von Resozialisierung. Und selbst bei menschlichen Straftätern schwierig und oft vergebens.
Das, was im Hundetraining erreicht werden kann, ist eine Verhaltensänderung.
Das zuvor erlernte Verhalten ist jedoch nach wie vor da und kann auch wieder abgerufen werden. Dementsprechend muss der Mensch bereit sein, auf das alternative Verhalten zu bestehen.
Denn auch das gehört dazu: Eine Gewohnheit, und sei es eine schlechte, ist erstmal etwas Gutes. Sie erspart uns das Denken. Das ist bei Hunden nicht anders. Der Hund, der beißt, tut dies aus gutem Grund. Und Handlungstrategien, die uns lieb und teuer sind, schmeißen wir nicht einfach so über Bord.
Die meisten Hunde zeigen Verhaltensänderungen nur dahingehend, dass sie kreativer werden, um ihre Ziele zu erreichen.
Während Lernen ein Leben lang möglich ist, ist Erziehung ein zeitlich begrenzter Vorgang. Irgendwann sind wir „fertig“. Einen erwachsenen Menschen grundlegend zu ändern, ist nicht möglich. Selbiges gilt für einen erwachsenen Hund.
Wenn im Vermittlungstext des Tierheims steht, dass „der kleine Rocky noch etwas Erziehung benötigt“, bedeutet das nichts anderes, als dass er eine Marotte hat, die gemanaged werden möchte. Ob und wie intensiv er das Verhalten zeigt, hängt dabei stark von seinem Gegenüber ab.
Auch das ist eine hässliche Wahrheit: Nur weil der Hund nicht mehr versucht, den Trainer zu beißen, heißt das noch lange nicht, dass das auch für den neuen Besitzer gilt.
Diejenigen, die sich ernsthaft mit Tierschutz befassen, wissen, wie oft Hunde nach einiger Zeit wieder im Tierheim landen – wegen genau der Probleme, wegen derer sie dort gelandet sind.
Vor einiger Zeit hieß es noch „Unsere Tierheime sind voll“, mittlerweile haben wir Meta-Tierheime für Hunde, die im Tierheim nicht mehr gehalten werden können?
Eine weitere hässliche Wahrheit ist, dass wir mehr problematische Hunde haben als es Menschen gibt, die sie übernehmen können oder wollen.
Eine befreundete Tierschützerin erzählte mir mal, dass sie grundsätzlich jeden Rüden kastrieren lässt. „Wie kommst Du dazu?“, fragte ich einigermaßen entsetzt. „Heute ist doch keiner mehr in der Lage, einen intakten Rüden zu führen“, antwortete sie trocken.
Was mich zu der Frage führt, ob viele Hunde nicht auch einfach deshalb problematisch sind, weil wir mit Normalverhalten nicht mehr umgehen können?
Ein anderer, ebenfalls sehr geschätzter Kollege, vertritt die Meinung, dass man beißvorfällig gewordene Hunde einschläfern sollte. Er argumentiert, dass Hunde keine gefährdete Spezies seien, womit er recht hat. Er argumentiert weiter, dass die Sicherung und Arbeit mit diesen Hunden sehr teuer sei, womit er ebenfalls recht hat. Und er argumentiert, dass die meisten dieser Hunde trotz der einen oder anderen erfolgreichen Vermittlung im Gros eh ein Leben lang weggesperrt bleiben werden. Auch damit hat er zumindest nicht Unrecht.
Erik Zimen sagte mal, dass es kein Tier gäbe, das leichter zu erziehen sei, als der Hund. Immerhin – und das macht Hunde einzigartig – ist es ein elementares domestikationsbedingtes Merkmal, dass der Hund den Menschen vorzieht. Wenn er die Wahl hat.
Warum also haben wir so viele problematische Hunde?
Ist es die Folge unverantwortlicher Zucht? Werden Hunde immer schwieriger? Sind sie Opfer unserer Wegwerfmentalität geworden?
Und/oder sind wir Menschen nicht mehr in der Lage mit Hunden umzugehen? Ist es einfach die Entwicklung unserer Gesellschaft?
Fragen über Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt.