Wir werden alt.

Manche Ereignisse führen einem vor Augen, dass die Zeiten, in denen man noch jung und hip war, eindeutig vorbei sind.

Ein solches Ereignis warf seine Schatten voraus, als ich vor ein paar Monaten in meinem Briefkasten eine Einladung fand – zur Silberhochzeit meiner Schwester.

Wow, dachte ich. Fünfundzwanzig Jahre, alter Schwede, wie die Zeit vergeht.

Während es mich vor einigen Jahren in den Hochtaunus verschlagen hat, ist meine Schwester unserer Heimat treu geblieben und lebt auch heute noch am Niederrhein, um genauer zu sein in dem kleinen, aber umso katholischeren Städtchen Kevelaer.

Aufgewachsen sind meine Schwester und ich derweil in dem noch kleineren, aber mindestens genauso katholischen Örtchen Twisteden unweit der niederländischen Grenze. Da habe ich meine Kindheit verbracht – eine typische Kindheit auf dem Lande, möchte man sagen. Auf Grund der falschen Konfession blieb mir der Zugang zu den Messdienern versperrt, so dass mir nur die Mitgliedschaft im Fußballverein blieb, nachdem ich mich für die Tuba im Musikverein nicht so recht entscheiden konnte.

Hier wurde ich auch zum ersten, zum zweiten und zum dritten Mal von einem Hund gebissen.

Achje, ich bin ewig nicht mehr da gewesen, und wenn, dann um an Geburtstagen oder zu Weihnachten meine Familie zu besuchen, was viel zu selten vorkommt. Und nun, am letzten Samstag saß ich in meinem Auto, Hüte-Tussie Barney Yapp Yapp-machend im Kofferraum, in Richtung Nordrhein-Westfalen.

Ausnahmsweise hatte ich mir mal etwas Zeit genommen und vor, einige Orte zu besuchen, die mir prägend in Erinnerung geblieben sind. Den Sportplatz des „DJK“, die LuGa, das Schulzentrum, den alten Bunker und, das „Vogelhäuschen“, das so genannt wurde, weil hier die Schützenfeste stattfanden und das wir in „Vögelhäuschen“ umgetauft hatten, weil man hier als noch zuhausewohnender Jugendlicher prima erste Erfahrungen in Sachen Beziehungen vergeigen sammeln konnte.

Zeiten ändern sich und mit ihnen die Orte, die uns geprägt haben. Und so musste ich die Erfahrung machen, dass so mancher besser eine schöne Erinnerung bleiben sollte. Das Dorf hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Dort, wo wir als Kinder zwischen Tannenbäumen fangen gespielt haben, steht heute ein Wohngebiet mit unzähligen, völlig identisch aussehenden Häusern wie aus Lego gebaut. Aus dem Bolzplatz, auf dem wir so ziemlich jeden Mittag verbracht haben, wurde ein „Sportpark“ und selbst das gute alte „Vögelhäuschen“ wurde renoviert und ist nun von schicken Eigenheimen umgeben.

Ich fuhr mit dem Auto die Wege ab, die ich erst als Kind und später Jugendlicher auf mich genommen habe. Mein Weg führte mich an Bauernhöfen vorbei, die heute Hofladen oder Bauerncafé heißen, an Weizenfeldern, die heute dicht bebaut sind und an meinem Lieblings-Plattenladen, in dem sich heute ein „1-Euro-Shop“ befindet.

Irgendwann gab ich auf und beschloss, dass ich besser mal den Barney lüfte, bevor er noch platzt. Ich fuhr von der Hauptstraße runter auf einen geteerten Feldweg und ließ Barney tun, was Hunde so tun.

Tatsächlich, dachte ich bei mir, ich werde alt. Die Orte unserer Kindheit verschwinden nach und nach genauso wie unsere Erinnerungen. Unwiederbringlich weg.

So langsam musste ich mich beeilen, schließlich sollte die Feier pünktlich beginnen und ich wollte nicht zu spät kommen. Ich packte Barney ins Auto und startete Richtung Gaststätte zwecks Feier der silbernen Hochzeit.

Manchmal gibt es merkwürdige Zufälle. Zum Beispiel ein Navigationssystem, das einfach nicht funktionieren möchte. Und so kam es, dass ich mich zwar noch etwas wunderte, dass der Kasten mich jetzt quer durch die Pampas führt, aber man ist ja technikhörig.

Und stand sie plötzlich vor mir. Die Brücke. Und ich hatte sie komplett vergessen.

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Zwischenzeitlich hatte es angefangen zu regnen und eigentlich hatte ich es mittlerweile eilig. Doch parkte ich das Auto, holte Barney aus dem Kofferraum und schaute mich um.

Hier war ich bestimmt 20 Jahre nicht mehr und es war, als wenn die Zeit stehengeblieben wäre.

Der Kanal führt bis zur Niers und mein Kumpel Christian und ich sind oft mit unseren Fahrrädern und Tiger, dem Schäferhundirgendwas-Mix unserer Familie, hierher gefahren.

Während Tiger Vögel jagte oder halsbrecherisch in den Kanal sprang, bauten wir Flosse, die nie länger als drei Minuten schwimmfähig waren, oder Schwerter und Lanzen aus den Ästen der Bäume am Wegesrand. Später – ich war pubertär und wollte gut aussehen – ging ich hier mit Jens joggen. Jens, der sich dann das Leben genommen hatte, wie ich Jahre später erfahren habe.

Während Barney ziemlich ungebremst die Umgebung erkundete, versuchte ich mich daran zu erinnern, ob ich damals jemals Tiger abgerufen oder bei irgendwas unterbrochen hätte. Gut, es wäre ein ziemlich sinnloses Unterfangen gewesen, denn Tiger ließ sich nie abrufen. Und blödsinnig obendrein, denn hier, an der Brücke gibt es keinen Grund, irgendetwas zu unterbrechen.

Der Regen legte den Wald in leichten Nebel und das Geräusch der Regentropfen verdichtete sich zu einem monotonen Rauschen. In dem Moment schaute ich mir Barney an, der – fast wie Tiger damals – durch den Kanal tobte.

Hunde haben’s gut, dachte ich. Barney denkt nicht darüber nach, dass das Haus finanziert werden muss. Er muss keine E-Mails schreiben, Deadlines einhalten, Anrufe beantworten und Steuererklärungen machen. Ein Hund ist nicht Teil des Hamsterrades, in dem wir – zu totaler Flexibilität und maximaler Belastungsfähigkeit verdonnert – tagein tagaus versuchen, mitzuhalten.

Barney ist scheißegal, was mein Nachbar von seinem Gekläffe hält und ehrlicherweise ist im auch egal, dass ich Nachbarn habe.

Barney hatte gerade eine Frühlingsblume entdeckt, die in seiner Nase kitzelte. Er musste niesen und kläffte sie an. Er lebt im Hier und Jetzt und fand die Blume spannend. Das zählt.

Ich musste lachen. Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an Barney nehmen und die Blumen geniessen. Ich schaute mich um. Mein Gott, ist das schön hier.

Und einen Moment lang, war sie da, diese Unbeschwertheit, wie ich sie als Kind erlebt habe. Die wohl nur Kinder erleben können, das gute Gefühl, dass jetzt gerade eben nichts von Belang ist und das uns nichts passieren kann. Das alles gut wird.

Gleichzeitig dieses bittere Gefühl, dass wir so viel davon verlieren – durch all den Alltag, unsere Verantwortungen, Verpflichtungen und selbstauferlegten Zwänge.

Meine Schwester hat silberne Hochzeit gefeiert. 25 Jahre, alter Schwede. Wir werden alt.

In den 25 Jahren bin ich wohl erwachsen geworden, durfte erleben, dass manche Träume Träume bleiben und Dinge, die man nicht zu träumen gewagt hätte, plötzlich wahr werden. Dass wichtige Menschen irgendwann verschwinden und andere auftauchen, die einem wichtig werden. Ich habe gelernt, dass aus Liebe Gleichgültigkeit werden kann und das man sich innerhalb einer Sekunde unsterblich verlieben kann. Ich habe geflucht, gehofft, geweint und gelacht. Und einmal sogar gebetet – und das in Kevelaer.

Ich stand auf der Brücke und mir fiel auf, dass ich nie auf der anderen Seite des Kanals war. Verrückt, ich war früher bestimmt hundert Mal hier, doch habe ich nie geguckt, was hinter der Brücke kommt. Die Brücke war immer das Ziel, nie der Weg. So soll es bleiben.

Am Abend ging dann auf der Feier meiner Schwester eine Leinwand rum, auf die jeder etwas schreiben sollte. Ich schrieb „Auf die nächsten 25 Jahre – Viel Spaß!“.

 

4 Kommentare
  1. Petra
    Petra sagte:

    da werd ich auch gleich ganz melancholisch … mir ging es ähnlich, als ich durch den duisburger vorort fuhr, in dem ich aufgewachsen bin. so viele veränderungen. und immer wieder eine ecke, in der die zeit stehen geblieben schien. und dann auch wieder viel verfall.

    und twisteden … da war die double a ranch von leo und alexandra schouwenburg. über viele jahre war das dortige cutting turnier im sommer eines meiner highlights. manchmal war ich auch so da.

    die ranch liegt ganz am ortsrand, man fährt durch den ort durch, aus richtung straelen kommend, an dem freizeitdings vorbei, i n einer kurve zweigt ein weg links ab, da rein, kurve links, dann kommt rechts die ranch, dahinter noch ein paar felder und dann die grenze zu den niederlanden. Alexandras Mutter lebt auch da, direkt nebenan, sie hat damals noch Foxterrier, glaub ich, gezüchtet.

    Ich hab mir nichts dabei gedacht, als ich – im Auto mit belgischem Kennzeichen – um die erste Ecke bog und ein schlichtes Fahrzeug, das da stand, hinter mir herfuhr. Auch nicht, als das Fahrzeug ebenfalls auf den Parkplatz der Ranch einbog und schräg hinter mir stehen blieb. Der Beifahrer stieg aus, kam zu mir und meinte freundlich: „Kriminalpolizei“. Ich meinte ebenso freundlich: „Und ich bin die Assistentin von James Bond.“ Er lachte nicht, guckte ins Auto und stellte ein paar belanglose Fragen. Mittlerweile war ich schon irritiert. An sich hielt ich das Ganze für einen Witz von Einstallern, die mich wohl zu kennen schienen, aber ich konnte mich an sie partout nicht erinnern. Was für mich allerdings normal war oder ist. Und so dauerte es eine ganze Weile, bis ich begriff, dass die Jungs tatsächlich von der Polizei waren und diesen Feldweg wegen seiner guten Verbindungen zu den Niederlanden unter Beobachtung hielten, nach einem Sparkassenüberfall einige Tage zuvor, an dem auch ein belgisches Fahrzeug beteiligt gewesen war. Ich war glaub ich die einzige, die das alles unterhaltsam fand.

    In 25 Jahren solltest du mal die andere Seite der Brücke erkunden.

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  2. Daggi
    Daggi sagte:

    Wir werden alt. Ja, das ist wohl so. Doch blicken wir auf eine hoffentlich schöne, frei gelebte Kindheit- und Jugend zurück. Ich baute Blätterbuden im Herbst, Lagerfeuerchen am alten Schrottplatz, Räuber und Gendarm bis die Laternen angingen. Durch den Aaper Wald gestromert. Glücklich und dreckig nach Hause gekommen.

    Ich weiß wir die Jahreszeiten riechen..erinnern sie mich doch an so viele Stunden der wilden Spielerei.

    Das ist nichts unwiederbringliches, weil es gelebt wurde, weil es Erinnerung ist.

    Aber klar – DU wirst nur alt. 😉

    Antworten
  3. Mike
    Mike sagte:

    Manchmal treibt die Zeit seltsame Dinge. ….
    Gerade im alten Bekannten/Schulkollegen Kreis, genau die die man nicht mehr wiedererkennt.
    Ich hab jetzt schon zweimal im Job Schulkollegen getroffen die Polizisten sind. Erkannt haben wir uns nur am Namen nach meiner Personenüberprüfung.
    Naja und andere …..
    Da scheinen einem Jahrhunderte ins Land gegangen zu sein.
    Aber so ist das halt…..

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  4. Birgit
    Birgit sagte:

    Ja, die Orte der Kindheit. Heute merke ich manchmal, wie sehr sie mich geprägt haben.
    Wir spielten im Wald, bauten Hütten aus Ästen und Laub, sausten mit den Fahrräden durch die Nachbarschaft, spielten Cowboy und Indianer mit selbstgebauten Bogen und Pistolen aus Holz. In den Ferien half ich auf einem Bauernhof. Kühe von der Weide treiben, Ponies reiten, spielen mit Hunden und Katzen, Heuernte, Kartoffeln lesen, aber auch beim Hühnerschlachten helfen.
    Rückblickend hatte ich eine schöne Kindheit. Obwohl auch damals hin und wieder Tränen flossen.
    Immer wünschte ich mir einen eigenen Hund. Wurde nichts draus. Später dann Ausbildung, Beruf…und vieles aus der Kindheit vergessen.
    Vor einigen Jahren zog ich dann mit meinem Mann aufs Land. Erst mit 2 Katzen und jetzt mit 2 Hunden, die mein Leben komplett machen.
    Die Orte der Kindheit haben sich verändert. Aber die Erinnerung bleibt.
    Heute frage ich mich manchmal, was wohl die Kinder von heute später erinnern werden.

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